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Die Kunst der fallenden Bälle – Eine poetische Reflexion über das Jonglieren und das Älterwerden

Ich stehe in einem schmalen Lichtstreifen, irgendwo zwischen dem Gestern, das mir unter der Haut sitzt, und einem Morgen, das noch keinen Namen trägt. Die Hände geöffnet wie ein Versprechen – bereit, zu werfen, zu fangen, loszulassen. Drei Bälle liegen vor mir: rot wie ein schlagendes Herz, gelb wie der erste Sonnenstrahl nach einer durchwachten Nacht, blau wie das ungesagte Wort. Leicht in der Hand, kraftvoll in ihrer Bedeutung. Ich trage kein Künstlerkostüm, kein Scheinwerferlicht auf meiner Stirn. Und doch: Ich jongliere.

Mit Erinnerungen, die aufsteigen wie bunte Bälle – schwerelos und zugleich voller Gravitation. Mit Rollen, die mir in die Hände gelegt wurden, und jenen, die ihren Weg weiterzogen. Mit Plänen, die ich in die Luft hob, und Hoffnungen, die dort für eine Weile zu verweilen scheinen.

Jonglieren ist Bewegung. Leben auch.

In der Luft: Der erste Wurf

Es beginnt stets mit einem ersten Wurf. Zart manchmal. Oder mutig. Ein stiller Schritt über die Schwelle des Gewohnten. So wie ich mit 63 wieder lernen wollte – lernen, mich im Strom der Veränderungen immer wieder neu zu erkennen. Jonglieren gleicht keinem starren Gleichgewicht, sondern einem fließenden Mitgehen. Ein Anerkennen der Tatsache, dass nicht jedes Spiel gelingt – und doch jeder Versuch zählt.

Der erste Ball fliegt. Und mit ihm die Erkenntnis: Ich beginne. Heute. Morgen. Immer wieder neu.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem jüngeren Ich, geführt zwischen zwei Schlucken Tee und dem Duft frisch geöffneter Fenster: „Du glaubtest, der Aufbruch liege hinter dir. Und nun siehst du – er beginnt gerade.“ Es ist dieser kleine Ruck ins Leben hinein, der Mut entfaltet. Kein lauter Schritt, aber ein ganzer.

Der zweite Ball: Ambivalenz und Übergänge

Kaum hebt sich der erste Ball, folgt der zweite. Und in diesem Augenblick offenbart sich das Wesentliche: Ich lasse los, um weiterzuwachsen. Ich nehme an, dass das eine noch fliegt, während das andere bereits unterwegs ist. Willkommen, Ambivalenz. Willkommen, Gleichzeitigkeit.

Denn das Alter ist kein Ziel auf einer Landkarte, sondern ein Zustand zwischen Erinnerung und Erwartung, ein Lernfeld für innere Vielstimmigkeit: Verlust und Fülle, Abschied und Aufbruch, Leichtigkeit und Dichte. Bälle, die kreisen, überkreuzen, sich nähern. Ich tanze mit ihnen – ohne zu halten, ohne zu zwingen.

Und wenn meine Hand ins Leere greift – dann spüre ich: Auch dieses Leersein gehört dazu. Der Fall ist Teil des Spiels. Und der Schmerz darin ein Echo meiner Lebendigkeit.

Die Kaskade: Ein Lebensfluss

Es gibt diese Tage, an denen alles im Fluss ist. Die Bewegungen greifen ineinander, wie Töne in einer gut gestimmten Harmonie. Kein Grübeln, kein Abwägen – nur Rhythmus. Die Jongleure nennen es Kaskade. Ich nenne es: den Strom meines Älterwerdens.

An solchen Tagen schwinge ich meine Rollen, meine Körperlichkeit, meine Sehnsucht durch die Luft, und bin dabei ganz Gegenwart. Keine Spur von Halt. Keine Fessel. Nur Bewegung. Diese Tage tragen mich. Leise, aber weit.

Sie zeigen mir: Die Schönheit liegt nicht in der Makellosigkeit. Sondern in der Wiederholung. Im erneuten Versuch. Im beharrlichen Weitermachen. Mit Würde. Mit einem Lächeln, das auch mich selbst meint.

Der fallengelassene Ball

Immer wieder gleitet mir etwas aus der Hand. Ein Gedanke, ein Vorhaben, eine Verabredung mit mir selbst. Früher kam dann die Stimme in mir, die tadelte. Heute höre ich ihr freundlich zu – und werfe neu.

Ich beuge mich, hebe den Ball auf, atme. Und beginne. Denn Vergebung, auch für mich selbst, ist Teil meines Alltags geworden. Geduld meine ständige Begleiterin.

Hier liegt die Essenz meiner Jonglierkunst: Die Freiheit, zu entscheiden, was in der Luft bleibt. Die Gelassenheit, das Unfertige zu umarmen. Die Fähigkeit, aus einem „Drop“ einen Tanzschritt zu machen. Ich greife wieder – mit Zuversicht.

Glas und Gummi

Einige Bälle, so sagte Brian Dyson jemand, bestehen aus Gummi. Sie springen, wenn sie fallen. Andere sind aus Glas – und erfordern meine ganze Aufmerksamkeit. Meine Gesundheit – Glas. Die Verbindung zu meiner Tochter – Glas. Mein innerer Frieden – Glas.

Der Ball namens „Eitelkeit“? Gummi. Der Ball „übernommene Pflicht ohne Echo“? Auch Gummi. Ich lerne, zu unterscheiden. Und ich lerne, loszulassen.

Das bewusste Fallenlassen – ein Akt der Zärtlichkeit mir selbst gegenüber. Ich spüre, wie gut es tut, die Hände zu leeren. Nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke. Um Platz zu schaffen für das, was wirklich Gewicht trägt.

Der Kreis: Mehr als nur ein Trick

Die Kaskade habe ich geübt – ein wenig. Doch der Kreis ruft mich tiefer. Diese fließende, kreisende Bewegung ohne Anfang, ohne Ende. Sie ähnelt dem Gespräch mit einem alten Freund – offen, atmend, voll Wendungen.

Der Kreis ist das Sinnbild meines Älterwerdens. Keine Etappen, keine Treppen. Sondern ein Strom, der sich selbst nicht unterbricht. Ich spüre: Je mehr ich mich auf diese Form einlasse, desto weicher wird mein Blick auf mich. Ich darf mich wandeln – ohne Bilanz, aber voller Präsenz.

Jonglieren mit dem Körper

Meine Schultern kennen den Tanz. Mein Rücken gibt seinen Kommentar ab. Mein Körper – er spricht. Und ich lausche. Ich bewege mich – werfe, verlagere, fange. Der Stand bleibt – lebendig, ausbalanciert.

Mein Körper wird zum Dirigenten. Nicht streng, sondern fordernd auf sanfte Weise. Ich lasse ihn führen. Je aufmerksamer ich seine Impulse lese, desto harmonischer tanzen wir – er und ich – im Raum, den ich Leben nenne.

Jonglieren mit dem Leben

Ich jongliere mit Erinnerungen, mit zukunftsvollen Bildern, mit kleinen Sorgen und großen Träumen. Ich balanciere Fürsorge und Selbstschutz, Nähe und Rückzug. Immer wieder stelle ich mir die Frage: Welcher Ball erhebt sich weiter? Welcher findet seine Ruhe?

Ich wähle bewusster. Fülle statt Fülleffekt. Klang statt Krach. Ich brauche: Musik. Bewegung im Grünen. Wachheit für das Wesentliche. Und auch Raum für das Scheitern – denn es zeigt mir, wo ich mich neu ausrichten will.

Meine Jonglage wird zur Lebenskunst. Kein Spektakel. Sondern ein stilles Ritual. Eine tägliche Form der Präsenz.

Nachklang

Das Alter öffnet Räume – nicht um zu beeindrucken, sondern um zu spüren, was bleibt, wenn wir alles festhalten dürfen, aber nicht mehr müssen. Wenn sich die Hände von selbst öffnen. Wenn wir in der Bewegung ein Zuhause finden – jenseits von Kontrolle, mitten im Vertrauen.

Ich übe weiter.
Ballenweise Hoffnung.
Schrittweise Akzeptanz.
Kreisende Gedanken.
Und hin und wieder ein Tanz im Rhythmus des Lebens.

Jede Bewegung ein Versprechen.
Jeder Drop ein neuer Anfang.
Jonglieren – ein Spiel der Gegenwart.
Mein Leben – eine Choreografie aus Mut, Wandel, Liebe.

Reflexionsimpulse
– Welche Bälle bewegen sich gerade durch Ihr Leben – mit Freude, mit Pflicht, mit Sehnsucht?
– Gibt es Bälle, die in Ihre Hände zurückkehren sollen – oder Raum schaffen für Neues?
– Was sind Ihre Glasbälle – die zarten Schätze Ihres Alltags?
– Wo spüren Sie Fluss – im Körper, im Geist, in der Seele?
– Welche Geste möchten Sie üben, um sich selbst immer wieder neu aufzurichten?