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Wofür es sich zu denken lohnt – Ein Wegweiser für ein gelassenes Älterwerden (mit Ina Schmidt)
Ein Gespräch, das nachklingt wie Schritte im Kies eines Klostergartens.
Wie denken wir – gerade jetzt, wo vieles wankt? Über Rollen und Beziehungen, über Gesundheit, Sinn und das, was kommt. In unserer neuen Podcast-Episode spreche ich mit Ina Schmidt, Philosophin, Autorin und Gründerin der Denkräume, darüber, warum Denken keine trockene Kopfübung ist, sondern eine bewegte Praxis: ein Gehen, Innehalten, Weitergehen. Ein Labyrinth – kein Irrgarten.
„Die Mitte des Labyrinths ist wie ein Haus – aber wir bleiben dort nicht; wir nehmen das Gefundene mit hinaus in die Welt.“ (Ina Schmidt)
Labyrinth statt Irrgarten: Denken als Bewegung
Ina beschreibt, wie sie zufällig auf ein Labyrinth in einem Kartäuserkloster stieß – und dort den Unterschied zwischen Labyrinth (ein Weg, der zur Mitte führt) und Irrgarten (viele Sackgassen) begriff. Dieses Bild trägt durch die Folge: Denken heißt nicht sich verirren, sondern gerichtet unterwegs sein; in die Mitte kommen, ordnen, und wieder hinausgehen, verändert.
Denken ist dabei leiblich. Gehen, Schreiben, Atmen – der Körper denkt mit. Nietzsche hat’s schroff formuliert: Keinem Gedanken trauen, der keinen Spaziergang überlebt.
Älterwerden und Theoriefähigkeit: Klarer sehen, anders halten
Mit Jahren wächst Erfahrung – und oft etwas, das der Philosoph Odo Marquard „Theoriefähigkeit“ nannte: eine gedankliche Direktheit. Wir lavieren weniger, benennen klarer, halten Ambivalenz besser aus. Nicht alles ist reparabel; und doch entsteht aus dem, was ist, ein Mehr. Diese Haltung ist kein kalter Realismus, sondern eine freundliche Strenge mit uns selbst.
Gleichzeitig: Denken kann weh tun. Wer Demenz, Vergesslichkeit oder kognitive Einbrüche im Umfeld erlebt, kennt die Traurigkeit, wenn Denkwege bröseln. Umso mehr lohnt es, das Denken früh zu üben – wie Beweglichkeit im Körper.
Denkpraxis: Wie fange ich an?
Wir brauchen Räume und Rituale. Ein paar erprobte Wege aus unserem Gespräch:
- Der Küchen-Tisch-Salon: Lade 4–8 Menschen ein. Ein Thema, zwei Stunden (z. B. 18–20 Uhr). Kerze, Suppe, Stille-Minute am Anfang. Danach zuhören, sprechen, keine Pflicht zur Einigung.
- Schreibfenster: 15 Minuten frei schreiben – Was berührt mich an dieser Frage? – dann erst ins Gespräch. Schreiben ent-zerrt.
- Ge(h)spräche: Spazieren gehen und denken – Schritt für Schritt. (Erstaunlich, wie anders Sätze werden, wenn die Füße mitreden.)
- Methodenwechsel: Wenn die Spannung fällt, Form wechseln: Frage tauschen, schweigen, stehen, weitergehen. Improvisation ist kein Stilbruch, sondern kluge Dramaturgie.
Dialog statt Debatte: Verstehen, nicht bekehren
Hannah Arendt unterscheidet zwischen Erklären und Verstehen. Im Denkraum suchen wir Letzteres. Zuhören – wirklich. Nicht sofort kontern, erst aufnehmen: Was löst der Gedanke der anderen in mir aus? Der Konjunktiv hilft: Angenommen, es wäre so … So entsteht ein Feld, in dem Widersprüche nebeneinander stehen dürfen, ohne dass wir uns verfeinden.
Hilfreich sind auch die inneren Anteile: Wer spricht gerade in mir – die Tochter, der Vater, die Skeptikerin, die Zuversicht? Wenn ein Teil blockiert, darf ein anderer das Wort nehmen. Das entkrampft.
Gemeinschaftlich denken: Zwischen Generationen Öl in die Scharniere
Ina erzählt von philosophischen Cafés, in denen 18-Jährige neben 80-Jährigen sitzen. Vorurteile lösen sich, wenn echte Geschichten auf dem Tisch liegen. Ergebnis: verrostete Scharniere bekommen Öl. Das Material fürs Denken wächst, sobald wir uns mischen – kulturell, biografisch, sprachlich.
Radikale Hoffnung: Popper, Praxis und die kleine Dringlichkeit
Warum überhaupt optimistisch? Karl Popper liefert den Steigbügel: Es gibt keine vernünftige Alternative zum Optimismus. Hoffnung ist keine rosa Brille, sondern eine Arbeitsannahme. Sie macht handlungsfähig – heute. Gerade im Alter entsteht daraus eine konstruktive Dringlichkeit: Wenn nicht jetzt, wann dann? Kleine Schritte, klare Sprache, bescheidene Wirksamkeit im eigenen Radius.
Mini‑Übungen für die Woche
- Mitte finden: Zeichne ein kleines Labyrinth (oder such eins im Park). Geh’s im Stillen. Welche Frage trägst du in die Mitte – und was nimmst du hinaus?
- Denkzeit blocken: 60 Minuten „Denken zweiter Ordnung“ – nicht über das Problem, sondern über dein Denken. Welche Gewohnheit darf sich bewegen?
- Denkabend initiieren: Thema wählen (z. B. „Endlichkeit“ oder „Freundschaft“), 3 Leitfragen notieren, Einladung verschicken. Regel Nr. 1: Wir hören zu. Regel Nr. 2: Niemand muss überzeugen.
- Rollenwechsel: Schreibe 10 Zeilen aus Sicht eines inneren Anteils, der selten spricht (z. B. „die Geduldige“, „der Zweifler“). Was wird dadurch möglich?
Ein persönlicher Moment
Im Gespräch erinnere ich mich an meine Großmütter – an Sinnlichkeit, an Rouladenduft, an Wärme in der Küche. Aus der Erinnerung entsteht eine Frage: Was hat mich getragen, was trägt noch? Denken wird hier nicht klein-klein analytisch, sondern lebensnah: eine Art Selbstgespräch mit Vergangenheit, Gegenwart und dem, was vor uns liegt.
Fazit: Denken als Haltung – freundlich, wach, beweglich
Denken in unsicheren Zeiten ist kein Luxus. Es ist eine Lebenskunst. Wer sich aufmacht – ins Labyrinth, in den Park, an den Tisch – erlebt oft etwas Erstaunliches: Aus Schwere wird Klarheit, aus Klarheit Mut. Und manchmal, ganz leise, stellt sich so etwas wie denkendes Glück ein.
„Ich möchte meinem 88‑jährigen Ich eines schenken: Wendigkeit im Geist – und ein friedliches Lächeln im Sonnenstuhl.“ (Ina Schmidt)
Jetzt hören & mitdenken
Die ganze Folge mit Ina Schmidt gibt’s in der Gelassen‑älter‑werden‑App und überall, wo es Podcasts gibt. Teile gern deine Gedanken – als Sprachnachricht oder Kommentar. Welche Frage nimmst du heute mit auf den Weg?
Zum Weiterlesen
- Ina Schmidt: Wofür es sich zu denken lohnt. Ein philosophischer Wegweiser für unsichere Zeiten (Buch)
- Projekt Denkräume von Ina Schmidt (Philosophie in Alltag & Bildung)
Schlüsselbegriffe: Denken im Alter, Labyrinth, Ambivalenzkompetenz, Dialogkultur, Denkräume, Ina Schmidt, Pro‑Aging.

Bertram Kasper ist Podcaster, Blogger, Autor, Speaker, Altersstratege und wird gerne als Visionär in Sachen Älterwerden bezeichnet. Ihm ist es ein Anliegen, mit seinem Podcast, seinem Magazin und mit seinen Vorträgen einen differenzierten Blick auf das Älterwerden zu werfen.
Hier auf seiner Internetseite können Sie seinen Podcast hören, in seinem Magazin lesen und ihn für Vorträge buchen.