Inhalt
Schreiben in der dritten Lebensphase – ein Gespräch mit Tamara Dietl
Es gibt Gespräche, die bleiben. Dieses hier – geführt am 15.10.2025 auf der Frankfurter Buchmesse – gehört dazu. Tamara Dietl, Autorin, Kolumnistin und Sinn- & Wertecoach, hat ein Buch geschrieben, das mitten in unsere unruhige Zeit greift: „Die Seele bleibt Fußgänger“. Wir sprechen über das Schreiben als Selbsterkenntnispraxis, über die Kunst, Widersprüche auszuhalten, und darüber, wie Selbstfürsorge, Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit ein tragfähiges Dreieck bilden – gerade im Übergang vom Berufsleben in die dritte Lebensphase.
„Ich habe mir meinen Platz in der Welt zurückerobert – durchs Schreiben.“
— Tamara Dietl

Warum Schreiben – gerade jetzt?
Wer schreibt, stellt sich hin: vor die Seite, vor sich selbst, vor die Welt. Tamara beschreibt, wie ihr das Schreiben inmitten galoppierender Krisen (Krieg, Klima, KI) die innere Bodenhaftung zurückgab. Nicht, weil plötzlich alles gut wäre, sondern weil das Denken beim Schreiben weiterdenkt – präziser, ehrlicher, leidenschaftslos leidenschaftlich.
Schreiben ist in diesem Sinn kein hübsches Hobby, sondern ein Instrument – Teil einer persönlichen Schatzkammer. Es hilft, Gefühle zu sortieren, ohne sie kleinzureden. Es lädt uns ein, die eigene Haltung zu formen, statt von der Nachrichtenwelle fortgespült zu werden.
Ambivalenzkompetenz: Die neue Kulturtechnik
Tamara widmet der Ambivalenzkompetenz – der Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten – ein ganzes Kapitel. Denn: Die Gegenwart liefert selten einfache Antworten. Künstliche Intelligenz? Heilsbringer und Zumutung. Gesellschaftliche Konflikte? Schmerzhaft widersprüchlich.
Ambivalenz erzeugt innere Dissonanzen – wie in der Musik. Unser Reflex: auflösen! Doch nicht jede Spannung lässt sich in Harmonie überführen. Reif wird, wer beides stehen lässt: das Helle und das Dunkle. Der erste Schritt ist unscheinbar und radikal zugleich: merken, was diese Spannungen im Körper und in der Seele auslösen – und dann bewusst nicht vorschnell entscheiden, sondern halten, atmen, weiterfragen.
Übergänge: Vom Beruf in die Freitätigkeit
Viele von uns erleben den Übergang in den Ruhestand als den größten Wechsel ihres Lebens. Tamara erzählt offen, wie spät sie das Thema Älterwerden an sich herangelassen hat – und wie groß der innere Effekt war, als die „klassischen“ Signale (Lesebrille & Co.) kamen. Schreiben wurde dabei ein Geländeplan: Fragen stellen, Werte prüfen, Rituale entwickeln – manches wehtut, manches wird federleicht.
Öffentlichkeit oder stilles Kämmerlein?
Schreiben bleibt Risiko – erst recht, wenn Texte die Stube verlassen. Die Scham, sich zu zeigen, kennt fast jede*r. Tamara plädiert für beides: Wer veröffentlichen will, darf ambivalent sein (Stolz und Peinlichkeit dürfen nebeneinander sitzen); wer privat schreiben möchte, erfährt trotzdem die transformierende Kraft des Textes. Vorlesen – sei es im Freundeskreis oder auf einer Bühne – kann ein Geschenk sein: Verbindung in Sprache gegossen.
Mini-Leitfaden: 7 Impulse, die sofort tragen
- Kleinstes Format: 10 Minuten Freitext am Morgen. Ohne Anspruch, ohne Überschrift.
- Körper zuerst: Vor dem Schreiben 90 Sekunden atmen. Schultern, Kiefer, Bauch lösen.
- Dissonanz notieren: Was fühlt sich heute doppelt an (sowohl–als-auch)? Zwei Spalten genügen.
- Kill your Darlings: Nach dem Schreiben drei geliebte Formulierungen streichen – damit die Geschichte spricht.
- Dialog mit der inneren Stimme: Schreib die Gegenrede mit – kritisch, freundlich, neugierig.
- Übergangsritual: Eine Tasse Tee, ein Fenster, eine Kerze. Immer gleich. Der Körper liebt Wiederholung.
- Vorlesen: Ein Absatz, laut. Sprache will klingen; Rhythmus hört man.
Drei starke Gedanken aus dem Gespräch
- Gefühle sind politisch. Zivilisation gelingt, wenn wir den Umgang mit Gefühlen lernen – privat wie gesellschaftlich.
- Selbstfürsorge ist nicht egoistisch. Sie schützt die Seele, damit Verantwortung und Wirksamkeit überhaupt möglich werden.
- Widersprüche bleiben. Reife heißt, beides zu halten – statt die Welt in Gut/Böse zu spalten.
Zum Buch & zur Folge
Wer tiefer einsteigen möchte, findet in „Die Seele bleibt Fußgänger“ kluge Fragen, ehrliche Selbstgespräche und handfeste Instrumente für ein gutes Leben in unruhigen Zeiten.
Tamara Dietl – Autorin, Kolumnistin, Sinn- & Wertecoach (nach Viktor Frankl).
Buch zur Folge:
Die Seele bleibt Fußgänger – Vom gelingenden Leben in einer Welt im Wandel.
Mitnehmen, mitmachen, weitersagen
Wenn dieser Beitrag Resonanz in Ihnen weckt: Schreiben Sie heute noch drei Sätze. Nicht schön, nicht fertig – aber wahr. Und erzählen Sie jemandem davon. Geteilte Worte tragen doppelt.
Bleiben wir gelassen neugierig.

Bertram Kasper ist Podcaster, Blogger, Autor, Speaker, Altersstratege und wird gerne als Visionär in Sachen Älterwerden bezeichnet. Ihm ist es ein Anliegen, mit seinem Podcast, seinem Magazin und mit seinen Vorträgen einen differenzierten Blick auf das Älterwerden zu werfen.
Hier auf seiner Internetseite können Sie seinen Podcast hören, in seinem Magazin lesen und ihn für Vorträge buchen.