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Ab 77 Jahren sind wir alt. So stand es neulich in einem Beitrag des Zukunftsinstituts“ zum Thema Silver Society, zumindest wenn es nach der überwiegenden Meinung der Deutschen geht. Das bedeutet für mich auch, dass sich Menschen zwischen 60 und 77 Jahren noch nicht „alt“ fühlen. Dürfen wir uns in unserer Gesellschaft nicht alt fühlen oder fühlen wir uns tatsächlich noch nicht alt in diesen 17 Jahren jenseits der 60? Ist Altwerden so negativ konnotiert, dass niemand alt sein will und schon gar nicht sich „alt fühlen“ zulässt? Die Haltung „bewusst altern“, könnte eine Antwort sein?

Glauben wir der Forschung, dann fühlen wir uns im Schnitt 10 – 15 Jahre jünger, besonders jenseits der 60 Jahre. Oder steckt dahinter tatsächlich ein gesellschaftliches Narrativ, dass dem Sog der Ewigen Jugend erliegt. Die Alten zu Jungen Alten verdammt. Doch können wir wirklich am Altern vorbeischauen?

Tatsache ist: Die Menschen auf der Welt werden immer älter

Um einmal eine Zahl aus dem besagten Artikel zu nennen: „In Europa sind 2030, also in 8 Jahren, mehr als die Hälfte der Menschen über 50. Sie können dann mit einer weiteren Lebenserwartung von rund 40 Jahren rechnen“. Wir bekommen also eine vierte Lebensphase in unserem Leben, in der wir hochaltrig sind. Die Menschen werden also weltweit immer älter, ohne dass sie wirklich alt sein wollen. Ist das nicht fatal, das eigene Älterwerden so zu ignorieren?

Was bedeutet „alt“ überhaupt?

Schauen wir doch einfach mal die Herkunft dieses Wortes etwas genauer an.

Althochdeutsch „ald“ westgermanisch „alda“ und germanisch „al-a“ bedeuten wachsen und nähren. Und die Ungarische und Lappländische Sprache geben uns vielleicht eine noch nähere Abstammung an. „Elam“ bedeutet im Lappländischen und „Elem, Elen“, im Ungarischen, ich lebe, „Aeled“ oder Elet, im Lappländischen die Lebenszeit und im Ungarischen das Leben. Wachsen, nähren, Lebenszeit und Leben. Das hört sich doch irgendwie gleich besser an. Da könnte bewusst altern eine echte Alternative sein.

Also liegt es an der Bedeutungsgebung von „alt“ in unserer Gesellschaft, verbunden mit einer durch und durch negativen Konnotation des Begriffes. Oder steckt mehr dahinter? Niemand will und darf alt werden, obwohl wir jede Sekunde älter werden. Wieso diese Verdrängungsmechanismen? Und was könnte eine Antwort darauf sein.

Wachsen, nähren, Lebenszeit, das Leben. Bewusst altern

Ist es nicht vielmehr angesagt: bewusst altern. Also eine eigene Beobachterperspektive, einen Metablick auf den ganz persönlichen Prozess des Alterns einnehmen. Ich glaube, dies könnte ein echter Gewinn für die dritte Lebensphase sein. Das könnte der Beginn sein, die Zeit jenseits der 60 dem Leben ganz bewusst zu widmen. Eben nicht mehr getrieben von dem unbändigen Wille nach Leistung, dem Verantwortungsdiktat von Arbeitsanforderungen, dem Wunsch nach noch mehr Geld und Ansehen.

Klar mag das ein wenig überspitzt klingen, doch unsere auf Effizienz und Effektivität optimierten Gesellschaft lässt kaum einen anderen Lebensentwurf zu. Und dazu gehört meine Generation der Babyboomer auch noch zu den Menschen, für die es überwiegend aufwärts ging. Wir sind in einer Wachstumsgesellschaft groß geworden und viele von uns sind heute wohlhabend.

Gerade jetzt auf dem Weg in die dritte Lebensphase können wir noch einmal auf einer ganz anderen Art wachsen. In der Hektik zwischen 25 und 55 gab eher wenig Fokus auf unsere Spiritualität, auf die Frage nach dem Sinn und dem Wozu. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes erst jetzt so richtig Raum und Platz, die eigene Ausrichtung auf die etwas größeren Fragen, des bisher klein gebliebenen Kosmos zu richten. Wir können das erste Mal wirklich unseren nicht gelebten Träumen auf die Spur kommen und eintauchen in den Luxus der Wirklichkeitswerdung. Träume leben und durch die neuen Erfahrungen wachsen und neue Wahrnehmungsmöglichkeiten erforschen.

Zwei Beispiele

So hat z.B. eine gute Freundin von mir ihre Chefärztinnenstelle gekündigt und sich als angestellte Ärztin in einer Praxis mit geregelten Arbeitszeiten ihren Traum nach Natur, Pferden und Tieren erfüllt, für den sie bisher nie Zeit hatte. Aus gemeinsamen Gesprächen weiß ich, dass sie wesentlich zufriedener ist, gesünder lebt und von ihren Erfahrungen besser genährt wird.

Ein anderer Freund engagiert sich erstmals in seinem Leben ehrenamtlich in einem Heimat- und Kulturverein und entwickelt einen Wanderweg für Familien rund um das Dorf, in dem er lebt. Er spricht darüber, dass er auf einer anderen Ebenen einen Sinn, eine Aufgabe sucht, die ihn begleitet bei dem Übergang in den Ruhestand. Und er spricht von Generativität. Er möchte etwas weitergeben, einen Beitrag leisten – wenn auch nur im Kleinen – für eine bessere Welt. Generativität ist eines der zentralen Bedürfnisse für das Älterwerden. Beide Beispiele zeigen, dass es geht: bewusst altern.

Gelassen, in Ruhe und bewusst altern

Und die dritte Lebensphase eröffnet neben Sinn- und Generativitätsthemen aus meiner Sicht eben auch die Möglichkeit, bewusst alt zu werden. Sich der eigenen Gesundheit, dem eigenen Körper zuzuwenden und nach und nach immer besser zu lernen, den Alters gegebenen Veränderungen eine Annahmeaufmerksamkeit zu schenken. Wie drückt es Anselm Grün in meinen Gespräch mit ihm aus: Die Themen in den Jahren jenseits der 60 sind Annehmen und Loslassen!

Deshalb plädiere ich dafür, einfach bewusst altern. Wahrnehmen, was wird anders, die Körperveränderungen mehr in den Blick nehmen, auf die eigenen Bedürfnisse achten, die Leistungsfähigkeit anpassen und sich dennoch immer mal wieder fordern. Etwas dafür tun, wirklich in Bewegung zu bleiben. Soziale Kontakte pflegen und sich eine Aufgabe suchen und vor allem die Unterschiede zu vorher wahrnehmen.

Die Themen des Alters ins Gespräch bringen

Bewusst altern gelingt vor allem auch dann, wenn ich mich mit anderen alternden Menschen austausche. Die Themen bewusst in den Fokus stellen und darüber sprechen. Erfahrungen teilen, Gefühle benennen, auch die vermeintlichen Ängste. Die Lösungsmöglichkeiten von anderen Menschen können in diesem Kontext eine echte Unterstützung für uns sein. Wie bist du damit umgegangen, was hat dir geholfen?

Aus der Psychotherapieforschung wissen wir, dass darin ein enormes Entlastungspotential schlummert. Und dazu gehören auch die schwierigeren Themen wie Krankheit, Einschränkungen und die Endlichkeit. Der Tod kann im letzten Drittel des Lebens schon näher kommen. Erst gerade habe ich es in meiner Nachbarschaft wieder erlebt. 64 Jahre, die Träume vom Segeln, vom Begleiten andere Menschen jäh geplatzt. Ein Gespräch über diese Möglichkeit schien kaum machbar, so sehr war das Thema des Sterbens fast ein Tabu. Bewusstheit zu den Phasen des Lebens, auch damit ist der Sinn des Lebens verknüpft.

Ich auf jeden Fall, will bewusst altern

Und ich weiß, während ich das schreibe, dass es eine echte Herausforderung wird. Doch was ist die Alternative? War es nicht so, dass ich all die anderen Phasen in meinem Leben (der Schulzeit, mein Studium, die Familiengründung, die Karriere im Beruf) auch bewusst gelebt habe oder dies zumindest versuchte.

Gerade jetzt, mit 60 Jahren habe ich doch die besten Voraussetzungen, mit all meiner Lebenserfahrung, mit den gelösten Krisen, mit den kleinen und großen Erfolgen, mit immer mehr Zeitsouveränität, noch mehr Bewusstheit in mein Leben zu lassen. Mich spüren und wahrnehmen, mich ernst nehmen, mich annehmen, mich sein lassen wie ich bin, genau zu entscheiden, was ich wirklich will, mit mir im Reinen sein, einfach sein. Einfach sein, ganz im Jetzt, Bewusstsein.