Inhalt
Wie wir Abschiede gestalten und Aufbrüche wagen – ein Gespräch mit Sabine Schröder-Kunz – Ruhestand als Chance
Einleitung: Wenn das „Jetzt“ zum Neuland wird
Es gibt diesen Moment – man steht am Rand eines neuen Ufers. Der Arbeitsalltag liegt hinter einem, Kalenderseiten mit endlosen Terminen reißen ab, der Wecker verstummt. Was folgt, ist nicht einfach Freizeit. Es ist: Weite. Leere. Möglichkeitsraum.
Doch was macht man mit so viel unbestelltem Land?
In unserem Podcast „Gelassen älter werden“ haben wir mit Sabine Schröder-Kunz gesprochen – Gerontologin, Betriebswirtin und kluge Beobachterin der dritten Lebensphase. Ihr Buch „Ruhestand als Chance“ ist nicht nur ein Ratgeber, sondern eine Einladung zum Aufbruch. Gemeinsam haben wir erkundet, warum das Ende der Berufstätigkeit oft mehr Fragen als Antworten bringt – und wie wir diesen Übergang menschlich gestalten können.
Abschied vom Gewohnten: Wenn Rollen verschwinden
„Ich bin nicht mehr meine Visitenkarte.“
Diese Aussage hörten wir von mehreren Hörer:innen. Der Ruhestand entkleidet uns einer Rolle, die oft über Jahrzehnte definiert hat, wer wir sind – oder besser: wer wir dachten, sein zu müssen.
Sabine erzählt von Menschen, die sich verlieren im Meer der Zeit. Die plötzlich ihre Tage strukturieren müssen, obwohl sie jahrzehntelang fremdbestimmt waren. Und von anderen, die aufblühen wie Blumen im Spätsommer – weil sie endlich Raum haben für das, was lange aufgeschoben war.
„Der Ruhestand ist kein Stillstand. Er ist ein Möglichkeitsraum.“ – Sabine Schröder-Kunz
Doch diesen Möglichkeitsraum zu betreten, erfordert Mut – und oft: Trauerarbeit. Denn da ist auch der Verlust. An Bedeutung, an Resonanz, an Routine.
Die fünf Säulen eines gelingenden Übergangs
Sabine bringt ein Modell mit, das sie in der Begleitung vieler Menschen entwickelt hat. Fünf Säulen, die tragen können:
1. Körper – Die physische Heimat
Bewegung, Ernährung, Vitalität – unser Körper ist mehr als nur Hülle. Er ist Ausdrucksmittel und Resonanzraum. Im Ruhestand haben wir die Chance, ihm neue Aufmerksamkeit zu schenken. Kleine Rituale, Spaziergänge, Wassertrinken als Morgengebet.
2. Kopf – Geistige Lebendigkeit
Lernen endet nie. Ob neue Sprache, Philosophie oder ein Puzzle – der Kopf will gefüttert werden. Und manchmal reicht schon ein neugieriger Blick auf die Welt, um geistig jung zu bleiben.
3. Soziales Netz – Verbundenheit statt Vereinzelung
Die Kollegen fallen weg. Doch was bleibt? Nachbarschaft, Familie, neue Begegnungen. Es ist eine Lebenskunst, Kontakte zu pflegen und neue Menschen in den inneren Kreis zu lassen.
4. Aufgabe – Sinn und Wirksamkeit
Viele Menschen suchen nach einer Aufgabe. Nicht zwingend im Außen – auch innere Projekte zählen. Ein Garten. Ein Tagebuch. Ein Ehrenamt. Das Gefühl, etwas beitragen zu können, bleibt grundlegend für seelisches Wohlbefinden.
5. Haltung – Die innere Haltung als Kompass
Vielleicht die wichtigste Säule. Denn ohne eine freundliche, offene Haltung wird selbst das Schönste schwer. Es geht um die Balance zwischen Engagement und Gelassenheit, zwischen Tun und Sein.
Zwischen Freiheit und Überforderung: Wenn Leere Angst macht
Nicht jeder freut sich auf den Ruhestand. Manche spüren eine tiefe Leere – so, als würde das Fundament bröckeln. Die Tage dehnen sich. Der Sinn verflüchtigt sich.
Sabine erzählt von Menschen, die in die Aktivismusfalle geraten – alles nachholen wollen, was sie früher versäumt haben. Doch das kann schnell erschöpfen. Ihr Rat: Nicht gleich alles tun wollen. Sondern sich auch erlauben, nichts zu müssen.
Und: Trauer zulassen. Denn jedes Ende enthält Abschied. Es ist okay, traurig zu sein, wenn das Leben seine Form verändert.
Die Kunst, Hilfe anzunehmen – ohne sich klein zu fühlen
Ein großes Thema in unserem Gespräch: Autonomie. Viele Menschen wollen „niemandem zur Last fallen“. Doch was bedeutet das wirklich?
„Hilfe anzunehmen ist kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Ausdruck von Beziehung.“ – Sabine Schröder-Kunz
Diese Aussage hallt nach. Denn in einer Gesellschaft, die Selbstständigkeit glorifiziert, ist Hilfe oft schambesetzt. Doch wir alle sind voneinander abhängig – immer schon. Und im Alter kann diese gegenseitige Fürsorge zu einer neuen Tiefe in Beziehungen führen.
Resilienz – Das Unsichtbare stärken
Wie kann man sich vorbereiten auf das, was kommt – ohne zu wissen, was kommt?
Sabine nennt sechs Fähigkeiten, die zur Resilienz beitragen:
- Selbstwirksamkeit: Das Vertrauen, etwas gestalten zu können.
- Akzeptanz: Gefühle annehmen, auch die schwierigen.
- Optimismus: An Möglichkeiten glauben, nicht nur an Probleme.
- Entspannung: Die Kunst, loszulassen.
- Fehlerfreundlichkeit: Umwege gehören dazu.
- Netzwerke pflegen: Kein Mensch ist eine Insel.
Diese Fähigkeiten sind wie innere Muskeln – trainierbar, auch noch mit 70 oder 80. Vielleicht sogar gerade dann.
Einsamkeit und Altersscham – das Unsichtbare benennen
Bertram erzählt im Gespräch von der Angst, alt zu sein. Eine Angst, die oft tabuisiert wird. Altersscham – das Gefühl, wertlos zu sein, weil der Körper sich verändert, weil man „nicht mehr gebraucht wird“.
Sabine kontert: „Altersscham ist nicht natürlich. Sie ist sozial erzeugt.“
Ein starkes Statement. Denn es macht Mut, sich gegen diese Erzählung zu stellen. Und es ermutigt, neue Narrative zu finden: Falten als Geschichten. Langsamkeit als Qualität. Erfahrung als Schatz.
Und gegen Einsamkeit? Da hilft manchmal ein kleiner Schritt: den Nachbarn grüßen. Jemandem im Café zulächeln. Sich selbst verzeihen, wenn man an einem Tag niemanden trifft.
Räume für Traurigkeit – und dann wieder Licht
Was tun, wenn plötzlich die Tage schwer werden?
Sabine sagt: „Traurigkeit braucht Raum. Wenn wir sie zulassen, können wir auch wieder zurück ins Leben finden.“
Das ist kein Ratgeber-Tipp. Das ist gelebte Weisheit. Denn Gefühle verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert. Sie verwandeln sich – wenn man ihnen zuhört.
Reflexionsfragen – für deinen eigenen Weg
Am Ende des Gesprächs haben wir innegehalten. Denn der Ruhestand ist kein Rezept. Er ist ein Prozess – individuell, ambivalent, reich.
Hier ein paar Fragen, die dich begleiten könnten:
- Was habe ich im Berufsleben vermisst – und wie kann ich das jetzt nachholen?
- Welche Rolle spielt mein Körper in meinem Selbstbild – heute?
- Wen möchte ich in meinem inneren Kreis halten, wen neu dazuholen?
- Welche Aufgaben nähren mich – auch ohne gesellschaftliche Anerkennung?
- Wo darf ich mir erlauben, traurig zu sein – ohne mich zu schämen?
- Wie könnte ich mich mit anderen verbinden – trotz Zurückgezogenheit?
Zum Weiterlesen:
- Buch von Sabine Schröder-Kunz: Ruhestand als Chance. Die späte Lebensphase entdecken
- Website von Sabine Schröder-Kunz
Bertram Kasper ist Podcaster, Blogger, Autor, Speaker, Altersstratege und wird gerne als Visionär in Sachen Älterwerden bezeichnet. Ihm ist es ein Anliegen, mit seinem Podcast, seinem Magazin und mit seinen Vorträgen einen differenzierten Blick auf das Älterwerden zu werfen.
Hier auf seiner Internetseite können Sie seinen Podcast hören, in seinem Magazin lesen und ihn für Vorträge buchen.