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7 Faktoren für den gelungenen Übergang in den Ruhestand
Neulich habe ich für eine Keynote im Rahmen eines 25-jährigen Jubiläums zum Thema 7 Faktoren für eine gelungene Transformation, die Idee bekommen, die entwickelten bzw. vorgetragenen Inhalte auch auf den Übergang in den Ruhestand zu übertragen. Dies will ich nun tun.
In welcher Zeit leben wir…
Zuvor möchte ich Ihnen und mir einen Moment zum Innehalten geben. In welcher Zeit leben wir aktuell? Viele von uns, ich selbst bin 1962 geboren, erleben zum ersten Mal eine echte geopolitische und gesellschaftliche Krise, mit den damit verbundenen Folgen, die wir jeden Tag in den Nachrichten zu sehen und zu hören bekommen. Besonders neu scheint für uns zu sein, dass sich die Zusammenhänge so komplex und in einer dynamischen Wechselwirkung miteinander gestalten, wie wir es bisher nicht gekannt haben.
Fast macht es auf mich den Eindruck, wenn sich die eine Herausforderung als bewältigt darstellt, kommt schon die nächste Hiobsbotschaft daher. Die betreffenden Themen sind hinlänglich bekannt: Klima, Corona, der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die Fachkräftemangel, die Frage nach Generationengerechtigkeit, der Pflegenotstand, die zu erwartenden Rentenlücke, eine immer langlebigere Gesellschaft. Die Liste ließe sich sicher noch fortsetzen. Das Tragische ist, dass hinter dieser sachlich anmutenden Aufzählung tatsächlich vielzählige individuelle Schicksale stehen, die sich zum Teil fast täglich dramatisch verschärfen.
Die Welle in den Ruhestand
Dazu kommt aktuell noch, dass täglich zwischen 2800 und 3500 Menschen jeden Tag in Rente gehen. Das sind sind in den kommenden Jahren im Schnitt pro Anno über eine Million Menschen. Viele von ihnen werden so lange leben wie Generationen vorher nicht. Wir werden eine immer langlebigere Gesellschaft. Umso wichtiger und sinnvoll – darüber habe ich in meinem Podcast mit Expertinnen und Experten schon öfter gesprochen – kann es sein, sich auf den Ruhestand und auf die noch ca. 20 bis 30 vor einem liegenden Jahre vorzubereiten. Ebenfalls bedeutsam scheint es zu sein, sich zu vergegenwärtigen, welche Faktoren zum gelingende Ruhestand beitragen können und wie ich sie mir im besten Fall zu eigen mache.
Die 7 Faktoren von Vertrauen bis Sinn
Vertrauen, Akzeptanz, Liebe, Handeln, Lebendigkeit, Hoffnung und Sinn. All diese Aspekte sind gespeist aus meiner Lebenserfahrung, aus meiner Krisenerfahrung, aus meiner langjährigen Tätigkeit in der Entwicklung und Förderung von Menschen und von meinen Podcastgästen. Und 3 Bücher, die mich inspiriert haben, möchte ich nennen: „Kraft in der Krise“ von Christa Diegelmann, Margarete Isermann), „Der unendliche Augenblick“ von Natalie Knapp) und „Wozu das alles?“ von Christian Uhle.
Lassen Sie sich inspirieren und reflektieren Sie die einzelnen Kriterien für sich selbst und was sie für einen Bedeutung in Ihrem Leben haben. Dazu lade ich mit kleinen Reflexionsfragen ein.
Vertrauen
Haben Sie schon einmal den Begriff „Urvertrauen“ gehört. Er wurde von dem deutsch-amerikanischen Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson geprägt. In seinem Verständnis sind körperliche Nähe, Zärtlichkeit und Geborgenheit die Grundvoraussetzungen für die Entstehung von Vertrauen. Auch die regelmäßige und zuverlässige Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse, wie Nahrung und Flüssigkeit sind wichtige Parameter, die die Entwicklung von Vertrauen günstig beeinflussen. Wachsen wir dann noch in einer bindungsförderlichen Atmosphäre auf, dann steigen die Chancen, dass wir als Menschen sicher gebunden sind. Auch damit steigt die Fähigkeit in uns selbst zu vertrauen und eher mit komplexeren Situationen umgehen zu können.
Urvertrauen als die Fähigkeit, dem Vertrauen selbst zu vertrauen
Der deutsche Soziologe Dieter Claessens* erweitert den Begriff des Urvertrauens, in dem er ihn beschreibt, als die Fähigkeit, dem Vertrauen zu vertrauen. Auch wenn ich eben nicht alles unter Kontrolle habe, so habe ich doch die Erfahrung verinnerlicht, dass ich am Ende Menschen, Entwicklungen und Situationen vertrauen kann, wenn ich so will „die Verinnerlichung des Vertrauens“.
Gerald Hüther spricht von 3 Ebenen des Vertrauens
Da ist zuerst das Selbstvertrauen: Ich bin mir meiner selbst sicher, ich kann etwas, ich bin in der Lage Herausforderungen zu meistern und ich habe Vertrauen in meine Kraft und in mein Potenzial. Natürlich wissen wir alle, dass unser Vertrauen in uns selbst schwankend ist, von der Tagesform abhängig oder auch von bestimmten Ereignissen, die uns vielleicht eher schwächen als stärken. Also geht es um die grundsätzliche Erfahrung von Selbstwirksamkeit, kann ich etwas gestalten, beeinflussen und letztendlich dadurch etwa bewirken. Eine zentrale Erfahrung für uns Menschen, auf die wir später beim Sinn noch einmal zu sprechen kommen.
Vertrauen in soziale Beziehungen: Wechselseitige Beziehungen zu Menschen sind für uns Menschen elementar. Gerade in schwierigen Übergängen oder in Krisen, ist es zentral wichtig, dass uns Menschen zur Seite stehen. Gute Freunde, vertraute Weggefährten, unsere Eltern können gerade dann eine zentrale Bedeutung gewinnen. Deshalb spielt gerade im Ruhestand die Pflege sozialer Beziehungen ein entscheidende Rolle und eben nicht nur unter Gleichaltrigen. Gerade auf die Beziehungen zu jüngeren Menschen sollte deshalb ein Augenmerk gelegt werden.
Spiritualität: Gerade in unseren westlichen Gesellschaften kommt der Aspekt der Spiritualität immer noch zu kurz. Glaube ich an etwas Größeres, an etwas Allumfassendes, bin ich vielleicht gläubig? Und vertraue ich ganz grundsätzlich in die Welt, wie gehe ich mit der Unverfügbarkeit der Welt um? Verschwimmen manchmal die Grenzen zwischen der Welt und mir, gehe ich sozusagen ganz in der Welt auf und erlebe mich als ein Teil der Welt.
Reflexionsfrage: Wem vertrauen Sie? Wie ist das Vertrauen gewachsen? Wie unterstützt Sie Ihre Vertrauensfähigkeit beim Umgang mit dem Ruhestand?
Akzeptanz
Das Leben generell und der Übergang in den Ruhestand ist eine ständige Akzeptanzübung und Akzeptanzleistung. Kennen Sie das Zitat vom amerikanischen Theologen und Philosoph Reinold Niebuhr:
„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Reinold Niebuhr
Genau dies gilt auch für das Leben in der dritten Lebensphase. Und in Zeiten der Transformation gilt es, sich diese Haltung zu eigen, zu machen. Damit einhergehen Forschungen des britischen Psychologen und Traumaforschers Stephen Joseph, die zeigen, dass es erheblich dazu beiträgt, wenn ich das „Unabänderliche“ akzeptiere, das Trauma verarbeiten zu können. Darin kommt zum Ausdruck, dass wir keine passiven und ausgelieferten Beobachterinnen und Beobachter unseres eigenen Lebens sind.
In dem Kontext der Akzeptanz ist ebenfalls die Anerkennung von Unsicherheit und Ambivalenz besonders entscheidend, dies gilt in komplexen und unüberschaubaren Situationen wie gerade im Besonderen. Wir wissen eben nicht, wie etwas ist, es lassen sich eben keine Ursache-Wirkungskausalitäten ableiten, sondern es gibt immer mindestens zwei Seiten einer Medaille, meistens sprechen gegenwärtig sogar eher von Multiambivalenzen. Und genau so sollte eben auch unsere Kommunikation sein.
Reflexionsfrage zu Akzeptanz: Denken Sie an eine für Sie schwierige Situation. Was hat bei Ihnen dazu geführt, diese zu akzeptieren bzw. vielleicht mit den damit verbundenen Ambivalenzen umzugehen? Welche Schlüsse können Sie dafür bei der Transformation in den Ruhestand ziehen?
Handeln und Entwickeln
Gerade in schwierigeren Zeiten, kann ein kleiner Schritt den Unterschied machen, um eine Veränderung einzuleiten, um in einen anderen Zustand zu kommen. Ich nehme mir z.B. täglich 10 Minuten Zeit, in denen gezielt etwas tue, dass mir wirklich Freude bereitet.
Oder manchmal reicht schon, dass ich meine Aufmerksamkeit auf etwas Anderes richte, z.B. leicht und locker zu gehen. Es scheint komisch, doch diese kleinen Veränderungen, machen eben dann den Unterschied aus, weil es gelingt aus dem Körper heraus, eine schon erfahrene Erfahrung zu aktivieren, nämlich, wie muss ich gehen, dass es mir bessergeht.
Geht praktisches Handeln nicht, dann geht oft geistiges und mentales Handeln und darin liegt auch eine große Kraft. Also z.B. meine Vorstellung auf einen schönen Ort lenken, an dem es mir gut gegangen ist.
Zum Handeln kann es auch gehören, sich einmal zu fragen, was ich vielleicht besser einmal lassen sollte, vielleicht weniger „Ja“ zu sagen.
Und spannend ist es, dass eine aktuelle Studie aus des Zentrums für Salutogenese der Universität Zürich eine Gruppe von 700 Teilnehmende vor und in der Coronakrise befragte. Und alle, die mit kleinen Veränderungen und mit kleinen Handlungsschritten ihre Umgebung aktiv gestalteten, ging es auch in Anbetracht der enormen Verunsicherungen deutlich besser als denen, die sie eher nicht proaktiv verhielten. Denn sie behielten auch in der Krise, den selbst beeinflussbaren Teil in den eigenen Händen.
Reflexionsfrage zum Handeln: Wann ist Ihnen das letzte Mal ein kleiner Schritt gelungen. Wie würdigen Sie sich selbst, wenn es Ihnen gelingt, einen kleinen Unterschied zu generieren? Welchen ersten Schritt wollen Sie gehen, wenn es um die Vorbereitung auf Ihren Ruhestand geht?
Lebendigkeit und Begeisterung
Lebendigkeit entsteht aus meiner Erfahrung, wenn ich mich so ganz von Herzen berühren lasse. Dabei kann ich von Menschen berührt sein, von einer Frage oder von einem Thema oder ich kann auch ganz von mir selbst berührt sein. Und das Spannende ist, dass dann genau die dadurch entstehende Lebendigkeit und Begeisterung sichtbar wird. Viele von Ihnen können dies jeden Tag bei den von Ihnen betreuten Kindern ganz hautnah erleben.
Dann sprüht Energie, dann leuchten die Augen, dann wird das Gesicht ein einziges Lachen. Wir spüren ganz intensiv die damit verbundene Präsenz und die Begeisterung.
Wie drückt es Hartmut Rosa (Deutscher Soziologe) aus: „Lebendig werde ich erst, wenn das Andere da draußen mit mir so in Beziehung tritt, dass ich durch diese Beziehung selbst verändert werde, dass ich mich dabei und darin verwandle. Lebendigkeit ist deshalb Anverwandlung von Welt, nicht bloß Aneignung von Stoff.“
und weiter schreibt er…
„Lebendigkeit entsteht, wenn uns eine Bewegung, eine Begegnung oder eine Berührung überrascht. Sie lässt sich daher weder mechanisch erzeugen, noch kann man sie beherrschen. Um uns lebendig fühlen zu können, müssen wir riskieren, Fehler zu machen. Lebendigkeit ist das Gegenteil von Routine. Wer sein Leben unter Kontrolle hat, ist tot“
Und genau deshalb ist es in Zeiten der Unsicherheit besonders zentral, für sich selbst an etwas Vertrauten anzuknüpfen, das ein Gefühl von Lebendigkeit weckt und entfaltet. Diese Gefühle können z.B. ganz simpel von Musik ausgelöst werden, von einem bestimmten Geruch, der mit Leben verbunden ist, oder auch durch Tanzen.
Reflexionsfrage zu Lebendigkeit und Begeisterung: Wann waren Sie das letzte Mal so richtig lebendig, von Herzen berührt und in wechselseitiger Resonanz? Und wodurch aktivieren Sie bei sich ein Gefühl von Lebendigkeit? Was möchten Sie konkret tun, wenn es darum geht, im Ruhestand lebendig zu bleiben?
Hoffnung
Vertrauen baut eher auf die Erfahrungen der Vergangenheit auf und Hoffnung bezieht ihren Mut aus der Zukunft.
Damit manifestiert sich die Hoffnung auch im Handeln, weil sie in einem Schritt münden kann, der von den eigenen Gewohnheiten abweicht und etwas Neues schafft. Und Hannah Arendt hat einmal darauf hingewiesen, und wer könnte dies glaubwürdiger vertreten als sie, dass wir auch deswegen hoffen dürfen, weil wir vielleicht nicht im praktischen Sinn handeln können, doch dann geistig und mental handeln und so durch die Perspektivänderung die exakt gleichen Lebensumstände auf eine andere Weise erfahren können.
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“
Vaclav Havel
Und damit wären wir beim Sinn des Lebens, sodass ich vielleicht mit einer der zentralsten Aspekte in unserem Leben schließen will.
Reflexionsfrage zu Hoffnung: Wie steht es bei Ihnen mit der Hoffnung? Was haben Sie für Strategien entwickelt, weiter hoffen zu können? Welche Hoffnungen verbinden Sie mit Ihrer dritten Lebensphase?
Sinn – Wozu das alles?
Bevor ich nun gleich zum Ende kommen möchte, lassen Sie mich noch einen Moment Revue passieren.
Die bisher 6 beschriebenen Faktoren Vertrauen, Akzeptanz, Liebe und Beziehung, Handeln und Entwickeln, Lebendigkeit und Begeisterung und dann die Hoffnung, lassen sich nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen. Vielmehr wirken sie zusammen und können so ein tragfähiges Netz für schwierige Zeiten sein, denn sie ermöglichen uns beides – Stabilität und Wandlung.
Die Akzeptanz hilft uns in der Gegenwart anzukommen und das anzunehmen, was ist. Das Vertrauen in die Welt und in unsere Fähigkeiten speist sich aus den vielen guten Erfahrungen aus der Vergangenheit. Und die Hoffnung führt uns in die Zukunft und ermöglicht ihre Gestaltung durch Handeln. Die Liebe hilft uns dabei, uns mit Menschen zu verbinden, gelingende Beziehungen zu führen und berührt zu sein. Und diese Berührung wiederum schafft Lebendigkeit und nährt die Sehnsucht, unser Leben immer wieder zu erneuern und uns damit zu entwickeln.
Doch ein Aspekt fehlt noch, einer, der mir, seit ich 50 geworden bin, fast von Tag zu Tag wichtiger und bedeutsamer wird, eben auch weil die Endlichkeit einfach näher rückt. „Wozu das alles?“ – so auch der Titel des Buches von Christian Uhle. Er lädt ein zu einer philosophischen Reise zum Sinn des Lebens.
Hier liegt für mich das Zentrum der 7 Faktoren für gelingende Transformation. Was ist mein Sinn des Lebens? Wozu möchte ich meine Gaben und Fähigkeiten einsetzen? Wofür bin ich da, auf dieser Welt? So möchte ich Ihnen für die letzte Reflexion einen kurzen Auszug aus seinem Buch mitgeben:
„Sinn liegt nicht jenseits des Menschen, sondern entsteht zwischen Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen. Sinn liegt nicht jenseits der sichtbaren Welt, sondern mitten in unserer alltäglichen Lebenserfahrung. Insofern ist es auch eine gemeinschaftliche, gesellschaftliche Aufgabe, ein sinnerfülltes Leben für alle zu ermöglichen. Sinn und Selbstverwirklichung sind keine rein privaten Angelegenheiten. Äußere Umstände können es uns erleichtern oder erschweren, Haltungen einzuüben, die Sinn im Leben geben.“
Christian Uhle
„Die Sehnsucht nach Sinn ist vor allem eine Sehnsucht, in der Beziehung zu anderen Menschen aufgehoben zu sein, etwas zu bewirken, gehört zu werden, geliebt zu werden, zugehörig zu sein, etwas zu bedeuten. Als soziale und kooperative Spezies sind uns diese Wünsche zeit- und kulturübergreifend angeboren. Kein Wunder, immerhin gelangen wir nur durch andere überhaupt ins Sein, bekommen am Anfang unseres Lebens Nahrung, erlernen die Sprache, in der wir unsere Welt deuten wie auch uns selbst. Gemeinsam können wir daran mitwirken, Sinn zu ermöglichen. Denn falls es keine Götter gibt, die über uns wachen, sollten wir uns gegenseitig umso stärker unterstützen.“
Christian Uhle
Reflexionsfrage zu Sinn: Wofür bin ich auf dieser Welt? Wie wirke ich daran mit, Sinn zu ermöglichen? Welches „Wozu“ wollen Sie sich für Ihre noch 20 – 30 Jahre nach dem Ruhestand suchen?