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Angeregt wurde ich vor ein paar Jahren durch einen Artikel in „Zeit Wissen“ und durch einen Podcast der Sendung Lebenszeit (Deutschlandfunk) mich mit dem Thema ‚Spuren hinterlassen‘ etwas genauer zu beschäftigen. Gerade mit zunehmendem Alter könnte das Thema „Welche Spuren habe ich denn so in meinem Leben hinterlassen“ in den Fokus rücken.

Haben wir nicht alle auch den Wunsch, Spuren zu hinterlassen, sehnen wir uns nicht danach, dass etwas von uns bleibt? Wollen wir unsere geschenkten Gaben nicht so einsetzen, dass es ein „Wozu“ und ein „Wofür“ und etwas „Bleibendes“ von uns gibt? Und ist dies nicht vielleicht besonders für Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, eine Motivation? Doch auch sonst scheint diese Frage viele, vielleicht alle Menschen in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich intensiv umzutreiben.

Schon früh in meiner Berufstätigkeit tauchte die Frage „Was bleibt?“ auf. Welche Spuren hinterlasse ich in Menschen. 

Ich kann mich noch gut an einige Supervisionssitzungen erinnern, in denen sich meine Kollegen und ich selbst bei der aufreibenden Arbeit gefragt haben, was denn in den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen von uns als Pädagogen tatsächlich bleibt, was sie wirklich in sich integriert mitnehmen. Erst manchmal Jahre später, wenn sich zufällig oder auch heutzutage über Facebook ein Kontakt ergibt, werden diese Spuren deutlich. Dann können die Kinder und Jugendlichen von damals erstaunlich lebendige Geschichten darüber erzählen, was ihnen von uns als bedeutsam, als wichtiger Impuls für ihr Leben geblieben ist.

Welche Spuren von anderen leben in mir weiter fort?

Und dann gibt es da noch eine zweite Denkrichtung. Kann es sinnvoll sein, darüber nachzudenken, wer im Laufe meines Lebens bei mir welche Spuren hinterlassen hat und welche Geschichten meine Eltern, meine Geschwister oder meine Freunde dazu zu erzählen haben? Welche Spuren von anderen leben in mir weiter fort?

Wir hinterlassen ständig Spuren

Ganz profan betrachtet hinterlassen wir ständig Spuren an jedem Ort, den wir besuchen. Fingerabdrücke (die auf Plastiktüten bis zu sieben Jahren nachweisbar sind), Hautschuppen, Haare, Kaugummis unter Schulbänken, Schnitzereien in Parkbänken, oder ganz neu in Mode gekommen: Schlösser an Brücken am besten mit den eigenen Initialen und Liebeszeichen. Wer kann dazu nicht seine ganz eigenen „Spurenhinterlassen – Geschichten“ erzählen, so ganz analog und real erlebt. Denn von unseren Spuren im Internet soll jetzt hier gar nicht die Rede sein, vorrangig von jenen digitalen Fingerabdrücken, von denen wir oft gar nicht wissen.

44303 Generationen

Und wusstet ihr: Die ältesten Spuren von Menschen gibt es in Tasmanien, 3,5 Millionen Jahre alte Fußabdrücke unserer Vorfahren. Und von wem die genau sind, weiß heute wohl keiner mehr. Und der oder die, der sie hinterlassen hat, weiß auch nichts von der Bedeutung, die sie heute für uns haben. 3,5 Millionen Jahre, das sind bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 79 Jahren rund 44303 Generationen. Was für eine Vorstellung.

Spuren von denen wir nichts wissen

Ist es mit vielen Spuren, die wir hinterlassen, nicht so, dass sie uns selbst gar nicht immer bewusst sind? Weißt du, wann ein zufälliger fremder „Mithörender“ von dir einen Satz aufgeschnappt hat, der sein Leben komplett verändert hat? Weißt du, wann dir das letzte Mal ein Geldschein verloren gegangen ist, der für einen Unbekannten die nächste Mahlzeit bedeutete? Wir leben in anderen weiter, ob wissend oder unwissend, und oft können wir die Bedeutungsgebung des „Spurenaufnehmenden“ kaum ermessen.

Und wann hat dir das letzte Mal ein nahestehender Mensch von einem Traum erzählt, indem du eine wichtige Rolle gespielt hast? „Wir bewahren Menschen in uns auf und werden in anderen Menschen aufbewahrt. Für die einen ist das schlicht eine Hirnfunktion, für die anderen ein großer Trost“ (Was von uns übrigbleibt …2015).

Oder wie sagte es neulich ein enger Freund auf einer 50 – jährigen Geburtstagsfeier:

„Jeder einzelnen von euch hat auf seine oder ihre ganz individuelle und besondere Art Spuren bei mir hinterlassen. Diese Spuren erinnern mich an jeden einzelnen von euch und sie erinnern mich auch daran, dass es viel wert sein kann, sich auf Menschen zu beziehen und zu besinnen, die während des eigenen Lebens, nicht immer kontinuierlich, sondern vielleicht einfach für eine gewisse Zeit, eine besondere Bedeutung in meinem Leben hatten oder haben. Und ein fünfzigster Geburtstag kann dann schon mal der Anlass sein, sich darüber mehr Bewusstheit zu verschaffen. Das habe ich für mich getan. Und damit ihr auch wisst, welche Spuren ihr bei mir hinterlassen oder gelegt habt, habe ich euch und mir das aufgeschrieben. Und dabei hatte ich natürlich eher die Aspekte im Blick, mit denen ich es nicht so leicht habe, die für mich wertvoller Hinweis sein können, um meine eigene Entwicklung zu fördern. Wer weiß, wozu das noch einmal wichtig werden kann? Für den Moment drückt es eben den Wert aus, den ihr für mich habt, und es drückt aus, woran es sich in bestimmten Lebenslagen zu erinnern lohnt“. 

Vorschlag für ein Ritual zum Thema „Was bleibt?“

Beim Lesen dieser Zeilen kommt unvermittelt der Gedanke, ob es nicht sinnvoll und zielführend wäre, ein bewusstes Ritual unter Freunden oder auch in Gruppen von sich nahestehenden Menschen zu etablieren, das die Fragen

„‚Ich Perspektive‘: Welche Spuren hast du in mir hinterlassen? ‚Du Perspektive‘: Welche Spuren habe ich in dir hinterlassen“, in das Zentrum der Betrachtung stellt, eben ohne dabei gleich in einen Wetteifer zu geraten.

Ich habe folgende Erfahrung gemacht: Wenn ich der Frage „Was bleibt?“ Raum gebe, dann kann ich mein Leben als sinnvoller erleben.

Was sagt die Wissenschaft dazu?

Die beiden Forscherinnen Tatjana Schnell von der Universität Trier und Ursula Staudinger von der International University Bremen wissen aus ihren zahlreichen Untersuchungen, dass spätestens in der Lebensmitte die Frage nach Generativität verbunden mit konkreten Fragen wie: „Was habe ich der ‚Welt‘ weiterzugeben, wo kann ich mein Leben in einen übergreifenden Zusammenhang einordnen?“ ganz unvermittelt und mit Macht auftauchen. Gelingt es, Antworten darauf zu finden, bestehen gute Chancen, das eigene Leben als sinnstiftender zu erleben. Aktuell lässt sich dieser tiefe Wunsch in uns gut an dem enormen und engagierten Einsatz tausender junger und älterer Menschen bei der Unterstützung geflüchteter Ausländer ablesen.

Zwischenfazit – Was bleibt?

Sinnstiftender? Wenn ich als Individuum doch weiß, dass ich Spuren hinterlasse, dann braucht es eine demütige Haltung, aus der dann echtes verantwortliches und auch soziales Handeln entsteht. Es braucht die ganz persönliche Bewusstheit, dass ich bei meinem Gegenüber, in der Umwelt und in der Gesellschaft durch mein Handeln Spuren hinterlasse und das dann eben ganz konkret mit einem demütigen Umgang, einer demütige Haltung.

Peter Barrenstein (Direktor bei der Unternehmensberatung McKinsey und Vorstand des Arbeitskreises evangelischer Unternehmer) fragt es sich selbst so: „Habe ich meine Fähigkeiten genutzt, um anderen zu helfen? War ich glücklich mit meiner Familie? Habe ich Spuren hinterlassen?“

Arbeit und Leben lässt sich dabei für ihn nicht trennen. Für ihn geht es vielmehr darum, wie der eigene Lebensentwurf in Arbeit und Leben integriert ist. Und Barrenstein weiter:

„Wer am Ende seines Lebens zurückblicke, frage sich doch nicht, wie viel mehr Stunden er seiner Firma hätte widmen können.“ Und weiter: „Alles, was wir gelebt haben, ist schon gestorben. Wir müssen jede Minute leben.“

Genau dieser von Peter Barrenstein beschrieben Aspekt ploppt in der dritten Lebensphase wieder auf. Und das gewinnt auch deshalb an Bedeutung, da das Alter bisher nie jünger war als heute. Rein rechnerisch beginnt die dritte Lebensphase bei Frauen – ausgehend von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ca. 83 Jahre – mit ungefähr 55,3 Jahren. Und bei Männern mit durchschnittlich 79 Jahre Lebenserwartung schon mit 52,6 Jahren. Oder mit einem etwas anderen Blick hat ein heute 65 – jähriger Mann in Deutschland noch durchschnittlich 18 Jahre vor sich und eine 65 – jährige Frau durchschnittlich noch fast 22 Lebensjahre.

Wofür will ich mich noch einsetzen? Was bleibt vielleicht noch von mir?

Um die Herausforderungen der dritten Lebensphase zu bewältigen, ist es nach der schweizerischen Wissenschaftlerin Perrig-Chiello (2008, S. 142 f.) von zentraler Bedeutung für sich die Lebensinhalte, Themen und Entwicklungsaufgaben herauszuarbeiten, für die ich mich im letzten Drittel meines Lebens einsetzen will.


Dazu gehört zunächst die Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Lebensentwürfen. Folgende Fragen, auch hinsichtlich der Antizipation der Zukunft, können in das eigene Blickfeld gerückt werden und den Prozess der Selbstauseinandersetzung begünstigen:

  • Was waren meine Jugendträume?
  • Wie realistisch waren sie?   
  • Was konnte von mir realisiert werden, was eher nicht?
  • Wie soll ich meine Zukunft gestaltet? 
  • Wie will ich älter werden und wie soll mein älter werden aussehen?

Neudefinition der eigenen Identität und Perspektive für die dritte Lebensphase

Zu den vorgenannten Fragen gehört ebenfalls die Reflexion meiner vorhandenen Ressourcen. Was steckt noch in mir? Was liegt vielleicht brach und was will ich noch entwickeln? 

Selbstverantwortung, Proaktivität und Generativität 

Die drei zentralen Schlüsselqualifikationen Selbstverantwortlichkeit, Proaktivität und Generativität begünstigen, inwieweit die Auseinandersetzung mit diesen Fragen gelingt und ob daraus neue Entwicklungsmöglichkeiten identifiziert und umgesetzt werden können. Die schweizerische Wissenschaftlerin Perrig-Chiello (2008) hat dies im Rahmen ihrer Forschung herausgearbeitet. 

Wofür stehen Selbstverantwortlichkeit, Proaktivität und Generativität im Einzelnen bei der Frage: Was bleibt?

Selbstverantwortung

Menschen mit hoher Selbstverantwortlichkeit sehen sich weniger als Opfer ihre Umstände, das auf Hilfe anderer angewiesen ist, sondern setzen stärker auf ihre eigene Kompetenz, werden lösungsorientiert aktiv und suchen die Kommunikation mit Nahestehenden. Dabei lassen sie sich nicht von negativen Gefühlen wie Wut, Trauer und Enttäuschung überwältigen, sondern betrachten Krisen und Schicksalsschläge als notwendigen und zu bewältigenden Bestandteil menschlicher Existenz, und sind in der Lage, auch in schwierigen Zeiten auf sich zu achten und es sich selbst gut gehen zu lassen. Laut zahlreichen Studien korreliert hohe Selbstverantwortlichkeit mit positiver psychischer und physischer Befindlichkeit.

„Ich meine, dass das Schicksal die Hälfte unserer Handlungen bestimmt, die andere Hälfte lässt es uns selbst entscheiden.“ 

Proaktivität

Unter Proaktivität versteht man vorausdenkendes, überlegtes und antizipativ orientiertes Handeln. Proaktive Menschen planen voraus, nehmen Langzeitperspektiven ein und entwickeln Strategien, um Visionen zu verwirklichen. 

In der dritten Lebensphase sind proaktive Menschen eher in der Lage, sich anbahnende Veränderungen (Auszug der Kinder, Pflegebedürftigkeit der Eltern) zu antizipieren und sich darauf einzustellen, sowie sich auch potenzieller unvorhersehbarer Veränderungen (Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung der Partnerschaft) bewusst zu werden und damit wichtige Bestandteile des Lebens nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als kostbares, zu pflegendes Gut zu betrachten. 

Generativität

Unter Generativität wird nach Erikson (1973) das Ausrichten des Lebensinteresses auf die nachfolgende Generation verstanden. Das Bestreben, etwas zu schaffen, was die eigene Existenz überlebt, sowie auch der Wunsch, für andere Menschen von Bedeutung zu sein, hat für Personen des mittleren Lebensalters hohen sinnstiftenden Charakter. Generativität erleichtert zudem das Akzeptieren des bisherigen Lebens und gilt nach Erikson als Voraussetzung zur Erlangung einer Ich-Integrität im höheren Alter. „Je generativer sich Menschen im mittleren Lebensalter verhalten, desto größer ist ihr Selbstbewusstsein und desto besser ist ihr physisches und psychisches Wohlbefinden“ (Perrig-Chiello 2008, S. 148). 

Und da ist er wieder ganz konkret, der Bogen zum Thema „Spuren hinterlassen“.

Und was uns am Ende dann doch alle erwartet!

Und „am Ende will ich, dass alles gut ist“, so lautet das Motto des Bundesverbandes Deutscher Bestatter. Doch oft sieht die Realität anders aus.

Sterbende bedauern nach Untersuchungen besonders: „Sich selbst nicht treu gewesen zu sein, sondern gelebt zu haben, wie es von ihnen erwartet wird; verpasste Gelegenheiten; falsche Entscheidungen.“ Und was Sterbende ihren Kindern hinterlassen wollen, ist ebenfalls untersucht, die Top Five sind unverändert seit 5 Jahren: „Gesundheit, finanzielle Sicherheit, Frieden, gute Bildungschancen, eine saubere Umwelt“ (in Anlehnung an: Lebenszeit, Deutschlandfunk).

Und wenn du dich fragst, wie oft du schon zu den Übriggebliebenen gezählt hast, dann war die Erinnerung an das gemeinsame Gelebte das einzige Lebendige, das bleibt. Und du kannst dich selbst erzählen hören: das Rezept für die klassisch deutsche Roulade, mit Kartoffeln und Rotkohl, hat mir meine Großmutter beigebracht und das essen meine Kinder heute auch so gerne; oder die Feuerstelle hat mein Opa gebaut und da machen wir heute am 1. Mai immer noch Feuer und läuten die Grillsaison ein und am Ende pinkeln wir das Feuer aus, so wie es uns der Opa gezeigt hat. Und dann ist es wieder da, das wärmende Gefühl, das mit deiner Großmutter und deinem Opa so untrüglich verbunden und gespurt war.

Quellen:

  • Was von uns übrig bleibt, … wenn wir einen Ort verlassen, einen Menschen oder gar die Welt – niemals gehen wir so ganz. Eine Spurensuche, Sven Stillich, 13. Januar 2015, Zeit wissen online
  • Lebenszeit, Deutschlandfunk „Lebensspuren – Was bleibt von mir nach meinem Tod?

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